Wer sich als bisexuell outet, löst in seinem Freundes- und Bekanntenkreis zuweilen Unsicherheit und Unverständnis aus. „Das ist doch nur eine Phase“, heißt es dann oft, “das gibt sich wieder, lerne nur mal die richtige Frau kennen.” Oder: „Ach, sag doch gleich, dass Du schwul (oder lesbisch) bist.” Aber ist das wirklich so? Gibt es nur diese beiden Schubladen für sexuelle Präferenzen? Könnten wir tief in uns drin denn nicht alle ein bisschen bi sein?
Manuel* ist siebenundzwanzig Jahre alt, hat breite Schultern, dunkelbraune, kurze Haare, einen hippen Dreitagebart - und er sagt, er sei bisexuell. Bis vor kurzem hat er sich regelmäßig mit einem anderen Mann getroffen, davor war er in einer mehrjährigen Beziehung mit einer Frau. Er selbst kann die Diskussion um seine Art der Sexualität nicht nachvollziehen. „Ich fand Männer und Frauen schon immer gleichermaßen anziehend“, sagt er, „das war schon früher so, als ich ein Teenager war.“ Auch seine ersten sexuellen Erfahrungen hatte er damals mit beiden Geschlechtern gesammelt. „Mein erstes Mal war mit einem Mädchen aus meiner Schule. Sie war eine Stufe über mir. Auf einer Party haben wir wild miteinander rum geknutscht und sind dann zu ihr nach Hause, weil ihre Eltern übers Wochenende verreist waren. Sie hatte schon ein bisschen Erfahrung und unser Sex war wirklich schön. Aber danach wollte ich halt auch wissen, wie der Sex mit einem Mann ist. Und naja, eine Woche später habe ich meinen besten Freund verführt.“ Er lacht: „Das war gar nicht so schwer. Er ist heute übrigens mit einer Frau verheiratet.“
Was Dates angeht, hat Manuel die Erfahrung gemacht, dass es deutlich einfacher sei, mit Männern auszugehen: „Viele Frauen können sich gar nicht vorstellen, einen bisexuellen Mann zu daten, es sei denn, sie haben den Ehrgeiz ihn “umzupolen”, also ihm zu zeigen, wie geil Sex mit ihnen als Frau ist. Sie finden das Reden über Bi-Sexualität zwar sehr interessant, fragen viel nach, aber irgendwie immer auf die Gelegenheit lauernd, um ein Argument anzubringen, warum Frauen die besseren Sexpartner sind. Können sie den Mann nicht von den Vorzügen einer Frau überzeugen, verlieren sie sofort das sexuelle Interesse an ihm.” Während es viele Männer sexy fänden, wenn zwei Frauen miteinander rummachen, scheint es doch nur wenige Frauen zu geben, die es anturne, wenn zwei Männer etwas miteinander haben. Für viele sei „bisexuell“ dann einfach nur ein anderes Wort für „schwul“ und vor allem von Männern benutzt, die sich nicht trauen ihr Gay-Sein zuzugeben (und wenn nur verdeckt im Gay-Chat). Bei Dates verschweigt Manuel seine Bi-Sexualität daher häufig. “Manchmal sei es eben besser, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen,” sagt er.
Dabei ist Bisexualität überhaupt nicht ungewöhnlich, wie verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen zeigen. Kürzlich hat eine Studie der Wayne State University in Detroit ergeben, dass Hetero-Männer andere Männer umso anziehender finden, je mehr Alkohol sie getrunken haben. Spätestens nach dem zehnten Bier würden sie Männer genauso sexuell attraktiv finden, wie Frauen. Offensichtlich hängt die Frage, ob Du hetero- oder bisexuellen Sex praktizierst, also letztlich davon ab, wie viel Alkohol du getrunken hast.
Ganz ähnlich sieht es bei den Frauen aus: Essener Wissenschaftler wollen herausgefunden haben, dass auch Frauen eine grundsätzlich bisexuelle Neigungen besitzen. In ihrer Studie zeigten sie 234 Teilnehmerinnen erotische Videos, die sowohl heterosexuelle, als auch homosexuelle Szenen enthielten. Das Ergebnis: 74 Prozent der Frauen, die sich zuvor als heterosexuell einstuften, wurden beim Betrachten der Videos auch von den lesbischen Szenen sexuell erregt. Entsprechend fassen die Forscher die Ergebnisse ihrer Studie wie folgt zusammen: „Auch wenn sich die Mehrheit der Frauen als heterosexuell bezeichnet, zeigt unsere Studie, dass sie entweder bisexuell oder homosexuell sind, wenn es um Erregung geht. Aber niemals hetero.“
Während Homosexualität mittlerweile gesellschaftlich weitgehend akzeptiert ist, stellt Bisexualität für viele Menschen immer noch ein Rätsel dar. Doch Bi-Sex ist keineswegs ein Phänomen der Gegenwart. Schon im Jahr 1915 vertrat der bekannte Psychoanalytiker Sigmund Freud die These, dass alle Menschen ursprünglich bisexuell veranlagt seien. Und auch Alfred Charles Kinsey kam 1948 in seiner als „Kinsey-Report“ bekannt gewordenen Sex-Studie zu dem Schluss, dass mindestens die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung zu einem gewissen Grad an beiden Geschlechtern interessiert sei. Waren vor allem die 1920er Jahre noch von einer großen sexuellen Freiheit und Neugier geprägt, setzte in der Folgezeit eine Phase der sexuellen Prüderie und Intoleranz ein. Dabei ging die Offenheit gegenüber der eigenen bi-sexuellen Neigungen verloren. Das ändert sich momentan wieder grundlegend.
„Es passiert nicht oft, dass man auf jemanden trifft, für den/die sexuelle Einordnungen keine Rolle spielen“, berichtet Manuel. Wenn es um Sex geht, könnten sich eben nur die allerwenigsten von den herkömmlichen Denkmustern und Strukturen lösen. Und als bisexueller Mann sei man irgendwie nichts halbes und nichts ganzes. „ Von kategorischen sexuellen Einordnungen wie „ich bin ausschließlich hetero- oder homosexuell“ hält er nur wenig. Schon zu oft habe er die Erfahrung gemacht, dass selbst der größte Hetero-Macho-Typ ab und zu mal Lust auf einen anderen Kerl habe. Die „Dunkelziffer“ der Männer, die Sex mit anderen Männern haben, schätzt Manuel als ziemlich hoch ein. Allerdings findet er es traurig, dass viele ihre Sexualität nur im Geheimen ausleben und nicht offen zu ihrer Bi-Neigung stehen könnten. Für die Zukunft wünscht er sich, dass sexuelle Kategorien an Bedeutung verlieren: „Wir sollten diese starren Strukturen endlich hinter uns lassen.”
Aaron Carter, amerikanischer Sänger und ehemaliger Teenieschwarm, hat sich kürzlich auf Twitter als bisexuell geoutet. Das Medienecho danach war riesig. Offensichtlich sorgt das Outing eines Promis auch im 21. Jahrhundert immer noch für große Aufregung - auch das sagt viel über die tatsächliche Offenheit in unserer Gesellschaft aus. Für Manuel ist das Outing einer bekannten Person jedoch ein wichtiges Zeichen. Er hofft, dass dadurch das gesellschaftliche Bewusstsein für Menschen, die beide Geschlechter lieben, weiter geschärft wird. “Irgendwann wird man sich hoffentlich nicht mehr öffentlich zu seiner Sexualität bekennen müssen”, sagt er und fügt nach einer Pause hinzu, “doch bis dahin ist es leider noch ein weiter Weg.”
Manuel lacht und sagt: “Viele haben genau dieses Vorurteil, Bi-Sex sei nur ein Notnagel für Männer, die nicht an Frauen rankommen. Denen kann ich nur sagen, Marlon Brando, Rock Hudson, Gary Grant, James Dean… das waren doch alles Womanizer. Die Jungs lebten aber neben ihren vielen Frauengeschichten auch ihre Bi-Sexualität offenbar gerne und lustvoll aus. Also dieses Vorurteil ist totaler Quatsch! Bowies Ehefrau Angie schreibt in ihrer Biographie, dass sie ihren Ehemann David zusammen mit Mick Jagger nackt im Ehebett erwischt hat.” Manuel grinst, “der Rolling Stone-Song "Angie" wird von vielen als Entschuldigung an die Betrogene interpretiert.”
Sucht man bei Google nach bisexuellen Promis der Gegenwart, fällt auf, dass es sich dabei fast ausschließlich um Frauen handelt: Lady Gaga, Angelina Jolie, Ke$ha, Christina Aguilera, Megan Fox, Lindsay Lohan. In den unzähligen Internet-Rankings und Top10-Listen ( z.B. "Hättest Du gedacht, dass diese Stars bi sind") sind die Männer eindeutig in der Unterzahl. Liegen die Essener Wissenschaftler also tatsächlich richtig, wenn sie schlussfolgern, dass Frauen von Natur aus bisexuell sein könnten? Ist die weibliche Bisexualität gesellschaftlich anerkannter als die männliche, sodass Frauen ein Outing in der Öffentlichkeit leichter fällt? Oder sind Frauen einfach nur sehr viel mutiger als Männer? Sind sie in Wirklichkeit das starke Geschlecht?
Liebe Frauen, könntet Ihr Euch vorstellen, mit einem bisexuellen Mann auszugehen, Sex zu haben oder gar eine Beziehung zu führen? Und, hey, ihr Männer, könnt ihr euch vorstellen, mit nem Kumpel was zu starten?
In der Kolumne "JUNG & WILD" berichten unsere Autoren von alltäglichen erotischen Erlebnissen. Diesmal geht es um Bisexualität und gesellschaftliche Vorurteile.
*Name geändert, Titelbild © Warner Bros. publicity still for for the film Rebel Without a Cause
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