Jump to content

Hannah


Empfohlener Beitrag

Der Text ist hei

Um weiterlesen zu können benötigst Du einen Account.
Jetzt kostenlos registrieren!

Jetzt registrieren
Geschrieben (bearbeitet)

Der Schnee knirschte unter Hannahs Füßen, als sie durch die leeren Straßen stapfte. Um ihren Hals hatte sie mehrere Schals gewickelt, deren lange Enden sie an ihrem Körper herunterhängen ließ. Ihr schwarzes Haar hatte eine leichte Henna-Tönung und mit dem langen dunkelbraunen Mantel sah sie beinahe aus wie eine Hexe, befand sie nach einem Blick in das Schaufenster eines Brillengeschäftes. Es war der 24. Dezember und ihr Spaziergang inzwischen schon zu einer persönlichen Tradition geworden. Pünktlich nach Ladenschluß hatte es zu schneien begonnen. Die Einkäufer hatten die Innenstadt wieder frei gegeben und ihre Autos geparkt. Die übliche Geräuschkulisse war einer nahezu überdeutlichen Stille gewichen.
Hannah war 54 Jahre alt, lebte allein und hatte weder Besuch, noch war sie bei Jemandem eingeladen. Vor vielen Jahren hatte sie beschlossen, an den Weihnachtstagen keine Verpflichtungen mehr einzugehen und setzte das konsequent in die Tat um. Obwohl sie gerade das Weihnachtsfest als den Gipfel der Verlogenheit betrachtete, konnte das die melancholische Nachdenklichkeit nicht vertreiben, die sie auch in diesem Jahr aufs Neue überwältigte. Sie gestand sich, daß sie nicht gerne allein war, Gesellschaft um jeden Preis schloß sie aber kategorisch aus. Dafür mußte sie keine Gründe suchen. Es war keine Zeiterscheinung, sondern die einzig richtige Haltung, die für sie gelten konnte.
Die Schwüre, die sie mit den Freundinnen ihrer Jugend und der Zeit als junge Erwachsene verband, hatten für Hannah nichts von der Ernsthaftigkeit verloren. Noch immer war Freiheit für sie das Wichtigste. Die bürgerlichen Wertvorstellungen und gesellschaftlichen Rituale empfand sie heute noch genauso bedrückend wie in ihrer aktiven Zeit als feministische Aktivistin in den achtziger Jahren. Sie war mit ihren Freundinnen einig gewesen, daß es nicht in Frage kam, sich verheiraten zu lassen. Mit keinem Mann konnte sie sich vorstellen, Kinder in diese kaputte Welt setzen. Ihre Liebschaften waren, wie die ihrer meisten Genossinnen, oft genug gerade solche Männer, deren Macho-Allüren sie ablehnte und bekämpfte.
Früh schon hatte sie begriffen, daß ihr das Recht zustand, die Männer für ihre Lust zu benutzen, so wie diese es mit den Frauen taten. Vor allem, wenn das Prinzip Treue von einem ihrer Liebhaber eingefordert wurde, wandelte sich ihr Verhältnis von Akzeptanz zu Mißtrauen. Es waren in der Regel die Männer, die sich Seitensprünge erlaubten, jedoch nicht ertragen konnten, wenn ihre Partnerinnen mit einem anderen schliefen. Wenn sie spürte, daß ihre Lebensart durch die Beziehung zu einem Mann in eine falsche Richtung gelenkt wurde, verließ sie ihn. Niemals hatte sie mit einem Mann in einer gemeinsamen Wohnung gelebt und ihren Lebensunterhalt bestritt sie grundsätzlich selbst.
Nach dem Studium der Sozialpädagogik fand sie eine Anstellung in einem Jugendhaus, das in einem Stadtteil gelegen war, der von Armut und all ihren Begleiterscheinungen geprägt war. Nach 12 Jahren Sozialarbeit gab sie ihren Beruf auf, eröffnete einen Buchladen für feministische Literatur im Hinterhof eines sanierten Altbaus und hatte das Glück, im Vorderhaus eine geräumige Wohnung zu finden. Durch die Nähe dieses Hauses zum Theater waren viele ihrer Nachbarn Musiker, Schauspieler und Sänger. Der Hinterhof des Frauenbuchladens wurde innerhab kürzester Zeit Treffpunkt für die verschiedensten Vertreter alternativer Kultur und bescherte ihr einen großen Bekanntenkreis.
Doch die Mitstreiterinnen, die Freundinnen, die ähnlich konsequent ihre Ideale auslebten wie sie, wurden weniger. Hannah mußte sich sogar eingestehen, daß sie inzwischen keine mehr hatte. Eine nach der Anderen hatte geheiratet, fast alle waren nun Mütter und eingebunden in die Zwänge, die sie einst so vehement ablehnten. Sie respektierte deren verschiedene Lebenswege, konnte sich aber nicht gegen das Gefühl wehren, allein gelassen zu werden, die Letzte zu sein.
Hannah wurde aus ihren Gedanken gerissen durch ein Geräusch, das nicht in die Winterstille passte. Es kam vom Spielplatz, an dem sie gerade vorbei gegangen war. Auf einer Wippe saß eine Gestalt und stampfte mit den Füßen auf. Offenbar sollte damit die Kälte vertrieben werden. "Hast Du ne Kippe?" hörte Hannah eine Frauenstimme fragen. "Ich habe Zigaretten. Ja", antwortete Hannah und ging auf die Wippe zu. Eine Frau erhob sich, kam Hannah entgegen und nahm die Zigarette. "Danke. Feuer?" Hannah sah in die Augen der jungen Frau und sprach: "Es ist ungewöhnlich, heute hier jemanden zu treffen. Was treibt Sie denn hierher? Haben Sie Krach zu Hause?" Die Frau inhalierte tief den ersten Zug an der Zigarette und antwortete: "Kannste sagen. Scheiß Weihnachten. Bin abgehauen. Mein Mann, der Arsch. Am Saufen. Diesmal ohne mich. Und Du? Keine Bescherung?" "Nein, ich feier nicht, das hab ich mir schon lange abgewöhnt. Wie heißt Du?" "Steffi. Ich geh auch gern im Schnee rum. Die ersten Spuren machen ist geil. Wo gehst Du hin? Und wie heißt Du?" "Ich bin Hannah, wir können ja ein Stück zusammen gehen. Ich wollte langsam wieder nach Hause." "Nimm mich mit. Der kloppt mich noch heut." Steffi nahm Hannahs Hand und zog sie leicht zum Gehweg zurück.
"Hast Du ne Badewanne?" fragte sie. "Ja, ich wollte mich heute auch noch in die Wanne legen, mit einem Glas Wein wahrscheinlich." Hannah blickte Steffi forschend in die Augen, worauf die junge Frau ihre Hände auf Hannahs Wangen legte. Hannahs Herz hämmerte wild in ihrer Brust und sie küßte Steffis Mund. Steffi öffnete ihre Lippen, suchte mit ihrer Zunge nach Hannahs und fand sie. Warme Wellen durchströmten Hannahs Unterleib, während sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Frau liebkoste. Dann gingen die beiden Arm in Arm und schnellen Schrittes davon, um gemeinsam auf Weihnachten zu pfeifen.


bearbeitet von Gelöschter Benutzer
Geschrieben

Sehr schöne dichte, stimmungsvolle Einleitung. Man kann sich ein gutes Bild von der Frau machen, und es liest sich wie die Einleitung zu einem längeren Text, der den gesamten Verlauf diesen Abends schildern wird....


Geschrieben

Danke für das Lob.
Die Geschichten, die ich hier poste, sind für poppen.de gekürzt. Bei "Hannah" entschied ich mich dafür, die Handlung nach dem Kuß in der gekürzten Variante enden zu lassen, um die Stimmung nicht zu kippen. Ich habe versucht, durch die Beschreibung der Hauptperson zu vermitteln, welche Bedeutung das zufällige Treffen für Hannah hat. Eine Fortsetzung wird es nicht geben, aber hin und wieder werden andere Ausschnitte aus verschiedenen Geschichten hier auftauchen.


Geschrieben

Gute und nachvollziehbare Entscheidung, find ich.
Auch wenn sie wohl für manche enttäuschend ist... ;-)
Gut geschrieben ist es allemal.


Geschrieben

Klam, nachdem ich sah, dass du hier schreibst, wusste ich, dass sich das öffnen lohnen wird: ein Autor, der Stilmittel nutzt und den Plot erkennen lässt.



Danke.

Halkyonia


Geschrieben

ich konnte mir von hannah sofort ein °bild° machen, das hat mir gleich gefallen.
ich muss gestehen ein wenig enttäuscht zu sein, dass es nicht weiter ging.


Geschrieben

Nochmal herzlichen Dank für die freundlichen Worte.
Liebe _Dandelion_,
Ich weiß, daß es immer eine Gratwanderung ist, als Mann eine Geschichte aus der Perspektive einer Frau zu schreiben oder ihre Gefühle zu beschreiben. Ich habe es getan und wäre schon froh, wenn es mir halbwegs plausibel gelungen wäre. Die sexuellen Handlungen der beiden Frauen in dieser Geschichte zu beschreiben verkneife ich mir, um nicht meine Männerphantasien darin einfließen zu lassen.


Geschrieben

Eine schöne Geschichte.... weiter so...


×
×
  • Neu erstellen...